Dass wir uns selbst als zur äußeren Umwelt abgrenzbare Person, als physische Einheit, als individuellen und dreidimensional existierenden Organismus erleben können, ist eine Elementarleistung unseres Tastsinnessystems. Kein anderer Sinnesbereich trägt substantiell zu dieser Selbsterkenntnis bei. Weder visuelle noch auditive Informationen informieren uns auf signifikante Weise, wie wir selbst oder unsere äußere Umwelt beschaffen sind. Allenfalls liefern diese Sinnessysteme orientierende oder nötigenfalls korrigierende Informationen; aber wie wir an geburtsblinden Menschen beobachten können, ist menschliches Bewußtsein und Erkenntnisbildung über die Beschaffenheit der äußeren physikalischen Umwelt auch ohne fakultative Unterstützung visueller und auditiver Informationen möglich. Das Tastsinnessystem mit seinem millionenfachen Sensornetzwerk und die korrespondierenden neuronalen Strukturen wirken als direkter Vermittler zwischen der äußeren physikalischen Umwelt und der physikalischen Beschaffenheit unseres eigenen Organismus. Nur physikalischer Direktkontakt zwischen unserem Organismus und die sensorisch-kognitive Analyse des materiellen Kontaktes kann unmissverständliche Informationen generieren, so daß wir mit Sicherheit annehmen dürfen, daß es eine in Relation zu unserem Körper äußere und unabhängige physikalische Umwelt geben kann. Alles andere ist Illusion; man denke an das Höhlengleichnis von Platon. Weder Auge noch Ohr können in direkten materiellen Kontakt mit der äußeren Welt geraten (mit Ausnahme bei köperverletzenden Kräften); die materielle Beschaffenheit des eigenen Körpers und der äußeren Welt kann nur gewiß über Tastsinnes-Informationen vermittelt werden.
In diesem Zusammenhang ist unklar und neurophysiologisch noch nicht untersucht, welchen perzeptiv-kognitiven Beitrag Körpereigenberührungen zur Etablierung und Aufrechterhaltung von Bewußtseinsfunktionen leisten. Spontane Körpereigenberührungen (auch spontane Selbstberührungen (sSB) genannt) sind Handlungen, die unseren Lebensvollzug vor- und nachgeburtlich begleiten. Das handelnde Subjekt ist in diesem Fall zeitgleich Aktor und Rezeptor. Insofern ist diese Form der taktil-haptischen Wahrnehmung ein Sonderfall innerhalb der Haptik. Im alltäglichen Regelfall berühren wir mehrere hundert Mal am Tag Bereiche unserer Gesichtshaut (faciale) mit den Fingern oder der gesamten Handfläche; auch andere Körperpartien werden ohne anderen Funktionszusammenhang durch unsere Hände täglich berührt. Die zeitliche Dauer solcher spontanen Selbstberührungen kann sehr kurz sein – zwischen 1-3 Sekunden. Zur Charakterisierung der hier beschriebenen Selbstberührungen ist zu bemerken, dass nur jene Formen gemeint sind, die funktional nicht durch die Regulation von Schmerz- oder Juckereignissen, oder durch die Regulation von Sexualfunktionen motiviert sind. Denn die weitaus häufigste Form der spontanen körpereigenen Selbstberührung kann nicht einer der o.g. Funktionen zugeordnet werden.
Wir untersuchen mit neurophysiologischen (EEG) und experimentellen Verfahren, die physiologischen und psychologischen Bedingungen unter denen spontane faciale SB bei gesunden Menschen auftreten. Wir prüfen Hypothesen, die die regulativen Funktionen spontaner facialer SB auf der Ebene von Emotions-, Gedächtnis- und Aufmerksamkeitsprozessen betreffen. Erste Studienergebnisse liegen vor und sind zur Veröffentlichung eingereicht. Folgestudien mit klinischem Kontext sind geplant.
Ergebnisse:
Grunwald, M., Weiss, T., Mueller, S., Rall, L.(2014). EEG changes caused by spontaneous facial self-touch may represent emotion regulating processes and working memory maintenance. Brain Research. 1557, 111–126. (PDF)
Mueller, S., Martin, S. & Grunwald, M. (2019). Self-Touch: Contact durations and point of touch of spontaneous facial self-touches differ depending on cognitive and emotional load. PloS one, 14(3), e0213677. Doi: 10.1371/journal.pone.0213677 (PDF)
This work was supported by DFG grant 623492.